1850 - 1885. Boom in der deutschen Zuckerindustrie
Von Michael Fraikin
Veröffentlicht 7. Februar 2022
Bearbeitet 9. Februar 2022
In diesem Artikel beleuchten wir die Entwicklung der deutschen Zuckerindustrie während einer Periode enormen Wachstums auf dem Weg zur Weltmarktführerschaft. Natürlich geht es uns besonders um die Wertpapiere, die auch eine der wesentlichen Quellen darstellen - genauso wie meine kleine zuckergeschichtliche Bibliothek und darin besonders die Jahrbücher der Zuckerwirtschaft sowie Jubiläumsschriften einzelner Unternehmen und Verbände.
Was vorher geschah…
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstand in Europa ein erhebliches Interesse an einer vom Zuckerrohr unabhängigen Zuckergewinnung - wobei sowohl die Rübe als auch der Ahornbaum als Kandidaten gehandelt wurden. Während der Einsatz von Ahorn nicht über das Experimentalstadium hinauskam, wurde 1801 in Cunern in Preußen die erste Fabrik eingerichtet. Höchstwahrscheinlich wäre daraus aber nichts geworden, hätte nicht der historische Zufall in Gestalt der großen Politik eingegriffen: das napoleonische Frankreich verbot den Handel mit Groß-Britannien und die Briten blockierten mit ihrer Kontinentalsperre die meisten Häfen im überwiegend französisch kontrollierten Europa. Das führte zu einer ersten Blüte einer Rübenzuckerindustrie auf dem Kontinent. Als Napoleon besiegt war und die Sperre endete, stand diese noch in den Kinderschuhen steckende Industrie allerdings vor dem Aus. In Deutschland - anders als in Frankreich - verschwanden alle derartigen Unternehmen wieder. Ab 1830 entstanden aber wieder neue Fabriken, die sich dauerhaft etablieren konnten - und 1839 wurden die ersten erhalten gebliebenen Aktien einer deutschen Gesellschaft ausgegeben (die “Badische Gesellschaft für Zuckerfabrication” - einer der Vorläufer der späteren Südzucker) und ebenfalls zu dieser Zeit begannen erste Raffinerien neben Rohrrohzucker auch solchen aus Rüben zu verarbeiten.
Von der Manufaktur zur Fabrik
Die frühen Fabriken waren in Wahrheit eher größere Manufakturen als industrielle Produktionsstätten. 1841 produzierten 145 Fabriken gerade mal 14.200 Tonnen Zucker - weniger als 100 Tonnen pro Fabrik in einem ganzen Jahr. 1851 waren es schon 216 Fabriken und 53.300 Tonnen, 1861 247 und 126.500 Tonnen und 1886 produzierten 399 Fabriken 808.100 Tonnen Zucker. Tatsächlich produzierte bereits 1881 eine durchschnittlich Fabrik mehr als alle Fabriken des Jahres 1841 zusammen. Während die Zahl der Fabriken danach nicht mehr wesentlich anstieg, verdoppelte sich die Produktion bis 1900 nochmals. In den Jahren bis 1885 entwickelte sich Deutschland von einem Land, das 97% seines Zuckerbedarfs importierte, zu einem Exporteur von Weltbedeutung. Anders als beispielsweise in Groß-Britannien war die Zuckerindustrie eine der Schlüsselbranchen der industriellen Revolution.
Aus dem Gutsbetrieb wird eine Aktiengesellschaft
Man kann sich leicht vorstellen, das diese höchst dynamische Entwicklung ohne entsprechenden technologischen Fortschritt und Veränderungen der Finanzierungsformen nicht denkbar gewesen wäre. Die frühen Fabriken standen in aller Regel im Eigentum von wohlhabenden Privatleuten und waren oft Bestandteil großer Gutsbetriebe - entsprechend haben aus dieser Zeit nur wenige Wertpapiere überlebt. Nur vier historische Wertpapiere aus der Zuckerindustrie sind aus der Zeit vor 1850 bekannt. Dann passierte aber zunehmend etwas Neues: Zuckerfabriken als Aktiengesellschaften mit Landwirten und lokalen Honoratioren als Aktionären. Während Anfang der 1860er erst 34% der neuen Fabriken Aktiengesellschaften gehörten, waren es 20 Jahre später bereits rund 80%.
Auch symbiotische Beziehungen kennen Interessenkonflikte
In einer Zeit in der motorisierter Transport nur sehr begrenzt verfügbar war, war es absolut notwendig für die neuen Fabriken mit Zuckerrüben von Landwirten aus der näheren Umgebung versorgt zu werden - während diese Landwirte darauf angewiesen waren, einen nahegelegenen Abnehmer für ihre Zuckerrüben zu haben. Das bedeutete einerseits eine symbiotische Beziehung und andererseits einen klaren Interessenkonflikt, wenn Fabriken Aktionäre hatten, die Rüben anbauten und solche, die nur Kapital zur Verfügung gestellt hatten. Eine Konsequenz waren verschiedene Aktiengattungen - solche mit Rübenanbaupflicht, die nur mit Zustimmung der Gesellschaft übertragen werden konnten, und solche ohne Rübenanbaupflicht. Also meistens A- und B-Aktien, manchmal auch C-Aktien und zumindest im Fall der Zuckerfabrik Stavenhagen gab es A, B, C, D und E Aktien mit verschiedenen Rechten und Pflichten. Anders als bei den allermeisten Gesellschaften nahmen bei den Zuckerfabriken die Pflichten der Gesellschafter breiten Raum ein: Der Rübensamen musste von der Fabrik bezogen werden, die Pflanzung und Pflege der Rübe hatte ordentlich zu sein - und bezahlt wurde zunehmend nach dem Zuckergehalt der Rüben.
Von der Magdeburger Börde komm' ich her
Zunächst war der größte Teil der deutschen Zuckerfabriken im Raum Magdeburg und Halle, dem heutigen Sachsen-Anhalt, konzentriert, wo die Bedingungen optimal waren. Braunschweig, Hannover und Schlesien folgten auf den Plätzen. Am Ende unserer Boom-Periode gab es in praktisch allen Winkeln des deutschen Kaiserreichs Zuckerfabriken, die ganz überwiegend Rohzucker produzierten. Dieser wurde dann in Raffinerien zum fertigen Produkt - allerdings gab es damals neben dem immer noch gängigen Kandiszucker eine Vielzahl von heutigen Konsumenten eher unbekannten Endprodukten, Formen und Qualitäten - zum Beispiel Melis, Farin, Lompen, Brode und natürlich den Zuckerhut. Die Raffinerien waren zunächst kleine Unternehmen, die in den Handelshäfen importierten Rohrzucker verarbeiteten - wenige von ihnen sollten im Geschäft bleiben (als eine der ältesten die Pommersche Provinzialzuckersiederei). Ab den 1850ern entstanden zunehmend Raffinerien in den Zentren der neuen Rübenzuckerfabrikation.
Kein Zuckerschlecken
Die Arbeit in den Zuckerfabriken war auch nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts kein Zuckerschlecken. Die 60-Stunden-Woche war die Norm, die Arbeit schwer und oft gefährlich und die Regelungen beinhalteten drakonische Strafen für die Arbeiter. Feuer waren ein häufiges Problem. Entsprechend schwierig war das Halten von Arbeitskräften, wenn diese eine Alternative hatten. Die Unternehmen lösten dieses Problem teilweise durch den Import von Arbeitskräften in der Kampagne einerseits und andererseits durch die Einführung erster Sozialleistungen wie den Krankenkassen, deren Leistungen und Bedingungen uns auch heute noch vertraut vorkommen. Während in unserem Betrachtungszeitraum der technische Fortschritt erheblich war, war die Mechanisierung nur allmählich. Zuckerrüben wurden von Hand von Wagen entladen, die von Pferden oder Ochsen gezogen wurden - eine Arbeit die häufig von Frauen und Kindern für einen sehr geringen Lohn erbracht wurde. Danach wurde gesäubert, gemahlen und gepresst. Der resultierende Saft wurde gereinigt und Unmengen von Kohle (und manchmal auch Torf) wurden verbrannt, um aus dem Sirup Rohzucker zu machen.
Aus Gulden und Thalern werden Mark
Was heute kaum mehr im Bewusstsein sein dürfte, ist die Vielfalt an Währungen und Maßen, die in Deutschland vor und teilweise auch nach der Reichsgründung 1871 herrschte. Im Süden war der Gulden vorherrschend und im Norden der Thaler. In den ersten Jahren wurde häufig auch noch ein Nennwert in der alten und der neuen Währung angegeben. In der Folge wurde dann zumeist die Bezeichnung Mark oder auch Mark deutscher Reichswährung verwendet - die Bezeichnung Reichsmark wurde erst ab 1924 in der Breite benutzt. Bei den Maßen, die ja ganz wichtig waren um zu definieren wieviel Zuckerrüben angepflanzt werden mussten, wurde in der Regel der Morgen benutzt (oft aber keineswegs immer 2.500 m²) aber bei der Rostocker-Actienzuckerfabrik waren es auch 1922 noch Quadratruten.
Auf den Boom folgt die Krise
Ab 1884 verfiel der Zuckerpreis rapide. Die stark steigende Produktion in Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn, die von erheblichen Exportanreizen befeuert wurde, sorgte für ein erhebliches Überangebot. In den fünf Jahren bis 1886 fiel der Verbrauchszuckerpreis um 27% und der für die meisten Unternehmen wichtigere Rohzuckerpreis noch stärker. Zwar wurden in der Folge einige - typischerweise kleine, ineffiziente und kapitalschwache Fabriken geschlossen - aber die meisten wurden von optimistischen Aktionären weiterfinanziert, die hofften sich am Markt durch Investitionen und Kostensenkungen behaupten zu können - und die sicherlich den mit einer Betriebsaufgabe einhergehenden Totalverlust für Aktionäre gerne vermeiden wollten…Aber selbst auf dem Höhepunkt der Krise entstanden neue Fabriken.
Die schönsten Aktien im Land
Viele der Wertpapiere der Zuckerindustrie aus dieser Periode gehören zu den dekorativsten Titeln aus Deutschland überhaupt. Typischerweise großformatig, mehrfarbig und gerne mit einer Fabrikabbildung und aufwendiger Bordüre. Allerdings gab es auch Aktien, die eher an die in den Niederlanden übliche, schlichte Gestaltung angelehnt sind. Die - zumeist lokalen - Druckereien, die die Wertpapiere herstellten achteten streng darauf keine Bestandteile bei verschiedenen Gesellschaften mehrfach zu verwerten (mir ist nur ein Fall bekannt, bei dem eine Bordüre wieder verwendet wurde). Die Fabrikabbildungen in den Vignetten stellten übrigens die tatsächliche Fabrik dar (und nicht nur eine idealtypische) - was umso verständlicher wird, wenn man bedenkt, dass die eigentlichen Aktien meist nach der Fertigstellung der Fabrik ausgegeben wurden und den Aktionären das Aussehen “ihrer” Fabrik bestens bekannt gewesen sein dürfte. Interessanterweise findet sich normalerweise der Name des Aktionärs mit seiner Berufsbezeichnung und gegebenenfalls seinem Adelstitel auf den Wertpapieren nebst Übertragungsvermerken über Jahrzehnte, für die manchmal mittels sogenannter Elongen “angebaut” werden musste. Neben den häufigen Gutsbesitzern finden sich so auch auch die privilegierten Rittergutsbesitzer, die Landwirte, Pächter und Grafen aber auch ein Erblandmarschall (Titel in Mecklenburg) oder Ackermänner und Kothsassen (Kleinbauern). Frauen kamen als Aktionäre durchaus auch vor - aber nicht in den Vordrucken der Zeit.
Wie viele gibt es und was sind sie wert?
Für die Jahre 1850 - 1885 sind 125 Wertpapier von 95 Emittenten bekannt. Fast immer handelt es sich um “Actien” und selten um “Antheilsscheine” (die wurden von GmbHs ausgegeben); in einigen wenigen Fällen haben sich “Obligationen” genannte Anleihen erhalten und in zwei Fällen “Interimsscheine”, die die Einzahlungen für Aktien belegten (und dann in aller Regel leider bei Ausgabe der Aktie vernichtet wurden). Im Reichsbankschatz finden sich nur 33 verschiedene, relevante Wertpapiere, von denen überwiegend jeweils weniger als 100 Exemplare vorhanden waren. Deutsche Papiere aus dieser Epoche finden sich recht häufig bei den spezialisierten Auktionshäusern. Seltene, dekorative Gründerstücke kosten zumeist einige tausend Euro und die meisten übrigen Papiere zwischen 200 und 1000 Euro - nur einige sind für weniger zu haben.